Der General wurde heute beerdigt.
„General“.- Anders hatte sie ihn
nie genannt. Oh, wie wütend er gewesen war, als sie ihn ein mal
„Daddy“ genannt hatte. Diesen Fehler hatte sie nicht noch einmal
begangen.
Er wollte sie nicht, das hatte er ihr,
nur ihr, mehr als deutlich gezeigt. So wie er auch ihre Mutter nicht
gewollt hatte. Doch diese war gestorben und so hatte er sich um seine
kleine Tochter kümmern müssen, die das Jugendamt einfach bei ihm
abgegeben hatte. Ein General von so hohem Ansehen würde sich schon
gut um das junge Mädchen kümmern. Wie sehr sie sich doch getäuscht
hatten.
Wie sehr sich doch alle in ihm
getäuscht hatten.
Fast konnte sie die Lobreden der
Kameraden ihres Vaters nicht mehr aushalten. Sie wollte von ihrem
Stuhl aufspringen und brüllen „So war er nicht!“, wollte der
ganzen Welt erzählen, wie es gewesen war, von ihm aufgezogen zu
werden, von einem Monster.
Er hatte sie nur aus einem Grund nicht
weggegeben: Weil das seinem Ruf geschadet hätte.
Doch für alle anderen war er immer der
liebende Vater gewesen und ihre Mutter die Böse, die dem armen Mann
einfach das Kind entrissen hatte.
Bei gesellschaftlichen Anlässen hatte
er sie immer als seine perfekte kleine Tochter präsentiert und sie
hatte brav gelächelt und nur etwas gesagt, wenn man sie gefragt
hatte. Das waren auch die wenigen Gelegenheiten gewesen, zu denen sie
ihren Vater „Dad“ oder „Daddy“ nennen durfte. Sie sollte es
sogar tun. Und immer lächeln und freundlich sein. Denn sie konnte
sicher sein, wenn sie dies nicht tat, würde sie danach erneut seine
Fäuste zu spüren bekommen.
Fiel denn nie jemandem auf, dass sie
nur lange Sachen trug? Fragte sich denn nie jemand, wieso dem so war?
Das hatte sie sich nachts oft gefragt, während sie sich in den
Schlaf geweint hatte.
Aber natürlich tat das niemand,
niemand bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Wieso auch? Sie war die
perfekte Tochter des perfekten Generals. Immer höflich und
zuvorkommend. Was machte es da schon, wenn sie selbst bei der größten
Hitze lange Klamotten trug? Vielleicht fror sie ja schnell oder hielt
es für unziemlich, sich so freizügig wie die anderen Mädchen zu
kleiden. Was machte es schon, dass ihr Lächeln nie echt schien?
Manche Menschen hatten nun mal ein seltsames Lächeln.
Wer hätte schon vermutet, dass der
General diese Perfektion mit Fäusten in das junge Mädchen hinein
geprügelt hatte? Sie war so jung gewesen, so jung. Und so naiv.
Immer hatte sie versucht, ihn zu beeindrucken, immer wollte sie es
ihm recht machen, doch das konnte sie nicht. Irgendwann hatte sie
dann endlich begriffen, dass es keinen Sinn hatte, dass er sie
hasste. Dass ihm nur sein Ruf und sein Ansehen wichtig waren. Von
wegen Stolz auf das Vaterland. Stolz auf sein Ego, nichts anderes.
Und das hegte und pflegte er wie nichts sonst. Und er gab nie
jemandem Grund, ihn zu kritisieren.
Deswegen würde auch nie jemand
vermuten, was er ihr angetan hatte. Und glauben würde es auch
niemand, vermutlich nicht einmal dann, wenn sie Beweise gehabt hätte.
Doch über die Toten sprach man nicht
schlecht. So würde sie für immer die perfekte Tochter des perfekten
Generals bleiben.
Und so schwieg sie, nahm die
Beileidsbekundungen von ihr Fremden Leuten entgegen und tat, als sei
sie traurig.
Doch in Wahrheit verbarg sie nur die
Erleichterung, die sich in ihr breit machte. Er war fort, vielleicht
war es nun endlich vorbei und sie konnte ihr eigenes Leben führen,
die Vergangenheit hinter sich lassen.
Niemandem schien aufzufallen, dass die
Augen der jungen Frau trocken blieben.
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