Mittwoch, 23. Juli 2014

Der General

Der General wurde heute beerdigt.
„General“.- Anders hatte sie ihn nie genannt. Oh, wie wütend er gewesen war, als sie ihn ein mal „Daddy“ genannt hatte. Diesen Fehler hatte sie nicht noch einmal begangen.
Er wollte sie nicht, das hatte er ihr, nur ihr, mehr als deutlich gezeigt. So wie er auch ihre Mutter nicht gewollt hatte. Doch diese war gestorben und so hatte er sich um seine kleine Tochter kümmern müssen, die das Jugendamt einfach bei ihm abgegeben hatte. Ein General von so hohem Ansehen würde sich schon gut um das junge Mädchen kümmern. Wie sehr sie sich doch getäuscht hatten.
Wie sehr sich doch alle in ihm getäuscht hatten.
Fast konnte sie die Lobreden der Kameraden ihres Vaters nicht mehr aushalten. Sie wollte von ihrem Stuhl aufspringen und brüllen „So war er nicht!“, wollte der ganzen Welt erzählen, wie es gewesen war, von ihm aufgezogen zu werden, von einem Monster.
Er hatte sie nur aus einem Grund nicht weggegeben: Weil das seinem Ruf geschadet hätte.
Doch für alle anderen war er immer der liebende Vater gewesen und ihre Mutter die Böse, die dem armen Mann einfach das Kind entrissen hatte.
Oh, wenn sie doch nur wüssten...
Bei gesellschaftlichen Anlässen hatte er sie immer als seine perfekte kleine Tochter präsentiert und sie hatte brav gelächelt und nur etwas gesagt, wenn man sie gefragt hatte. Das waren auch die wenigen Gelegenheiten gewesen, zu denen sie ihren Vater „Dad“ oder „Daddy“ nennen durfte. Sie sollte es sogar tun. Und immer lächeln und freundlich sein. Denn sie konnte sicher sein, wenn sie dies nicht tat, würde sie danach erneut seine Fäuste zu spüren bekommen.
Fiel denn nie jemandem auf, dass sie nur lange Sachen trug? Fragte sich denn nie jemand, wieso dem so war? Das hatte sie sich nachts oft gefragt, während sie sich in den Schlaf geweint hatte.
Aber natürlich tat das niemand, niemand bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Wieso auch? Sie war die perfekte Tochter des perfekten Generals. Immer höflich und zuvorkommend. Was machte es da schon, wenn sie selbst bei der größten Hitze lange Klamotten trug? Vielleicht fror sie ja schnell oder hielt es für unziemlich, sich so freizügig wie die anderen Mädchen zu kleiden. Was machte es schon, dass ihr Lächeln nie echt schien? Manche Menschen hatten nun mal ein seltsames Lächeln.
Wer hätte schon vermutet, dass der General diese Perfektion mit Fäusten in das junge Mädchen hinein geprügelt hatte? Sie war so jung gewesen, so jung. Und so naiv. Immer hatte sie versucht, ihn zu beeindrucken, immer wollte sie es ihm recht machen, doch das konnte sie nicht. Irgendwann hatte sie dann endlich begriffen, dass es keinen Sinn hatte, dass er sie hasste. Dass ihm nur sein Ruf und sein Ansehen wichtig waren. Von wegen Stolz auf das Vaterland. Stolz auf sein Ego, nichts anderes. Und das hegte und pflegte er wie nichts sonst. Und er gab nie jemandem Grund, ihn zu kritisieren.
Deswegen würde auch nie jemand vermuten, was er ihr angetan hatte. Und glauben würde es auch niemand, vermutlich nicht einmal dann, wenn sie Beweise gehabt hätte.
Doch über die Toten sprach man nicht schlecht. So würde sie für immer die perfekte Tochter des perfekten Generals bleiben.
Und so schwieg sie, nahm die Beileidsbekundungen von ihr Fremden Leuten entgegen und tat, als sei sie traurig.
Doch in Wahrheit verbarg sie nur die Erleichterung, die sich in ihr breit machte. Er war fort, vielleicht war es nun endlich vorbei und sie konnte ihr eigenes Leben führen, die Vergangenheit hinter sich lassen.

Niemandem schien aufzufallen, dass die Augen der jungen Frau trocken blieben.

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