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Ich atme einmal tief durch und dann
noch einmal. Und noch einmal. Langsam sollte ich mich wirklich
bewegen. Aber es geht einfach nicht.
Sie haben mir gesagt, es würde einfach
sein, ich würde mich dabei nicht schlecht fühlen und das müsse ich
auch gar nicht, schließlich würde ich ein Monster töten und keinen
Menschen.
Doch auch ein Monster hat Familie und
Freunde. Und wenn es Freunde hat, dann kann es doch gar kein Monster
sein, oder? Monster werden von allem gehasst außer von anderen
Monstern und da ich mein Zielobjekt eine Zeit lang beobachtet habe,
weiß ich inzwischen, dass seine Freunde das nicht sind. Es sind gute
Menschen. Sie helfen sogar in einer Suppenküche.
Also, was für ein Monster kann mein
Zielobjekt dann schon sein?
Ich wurde gewarnt, dass das mit mir
passieren könnte, dass ich Schuldgefühle bekommen könnte, noch ehe
ich das getan habe, was nötig ist. Ich solle nicht lange darüber
nachdenken, sondern es einfach tun. Aber ich kann nicht. So bin ich
einfach nicht. Ich kann niemanden töten, der unschuldig ist, der
noch nie jemanden getötet hat, obwohl er durch einen Biss in ein
Monster verwandelt wurde.
„Wir jagen die, die uns jagen.“ Das
ist unser Kodex. Wir beschützen die Menschen vor Dingen, die ihr
Verstand nicht bereit zu akzeptieren ist. Das Übernatürliche
existiert überall auf dieser Welt, doch nur wenige können es
erkennen und noch weniger glauben, was sie sehen.
Doch dieser 17-jährige Junge jagt
keine Menschen, er jagt nicht einmal Wild. Er lebt einfach nur vor
sich hin, so wie jeder normale Teenager in seinem Alter. Doch er ist
nicht normal. Und spätestens heute Nacht wird sich das zeigen, denn
es ist Vollmond.
Und bei Vollmond werden sie alle zu
Jägern, zu den Raubtieren, die sie in Wahrheit sind. Bei Vollmond
fällt es ihnen schwer sich zu beherrschen und nur viel Übung und
ein hohes Maß an Konzentration hält sie unter Kontrolle. Und das
auch nur, wenn jemand bei ihnen ist, der es ihnen beibringen kann.
Doch das hat dieser Junge nicht, er ist auf sich allein gestellt in
seiner neuen Welt. Erst letzten Monat wurde er verwandelt, dies ist
also sein erster Vollmond, seit er ein Werwolf ist. Der erste ist
immer der schlimmste, so steht es zumindest in unseren Büchern.
Automatisch frage ich mich, ob der
Junge Angst hat. Nein, das Monster. Ich soll ihn nicht zu einer
Person machen, sonst kann ich ihn nicht töten, sagen sie.
Er muss gemerkt haben, wie er sich
verändert, wie seine Sinne schärfer werden, wie die Tiere beginnen,
Angst vor ihm zu haben. Auch seine Klauen, Fangzähne und glühenden
Augen können ihm nicht verborgen geblieben sein. Er muss
fürchterliche Angst haben, er kann ja gar nicht wissen, was mit ihm
passiert.
Wieso hat ihn der, der ihn verwandelt
hat, einfach allein gelassen? Er hat doch die Verantwortung für ihn,
er muss auf ihn aufpassen.
Ich schlucke. Vielleicht tut er ja
genau das. Vielleicht weiß er, dass ich hier bin, um seinen Beta zu
töten und wartet nur darauf, dass ich mich zeige. Ich muss
vorsichtig sein.
Langsam gehe ich auf das Haus zu und
schaue zu seinem Zimmer hinauf. Der Junge heißt Marc. Werden seine
Eltern und Freunde jemals erfahren, was mit ihm geschehen ist? Wie
würde ich mich fühlen, als Mutter, die ihr Kind verloren hat?
Ich senke den Blick. Ich kann das
nicht... Aber wenn ich es nicht tue, dann wird er töten und das darf
ich nicht zulassen.
Die Werwolfpopulation hat in dieser
Gegend stark zugenommen in den letzten Monaten, der Rest meiner
Familie ist ebenfalls auf der Jagd. Mir haben sie das einfachste Ziel
überlassen, den jungen Beta, vor dessen Haus ich gerade stehe. Er
weiß noch nicht wie er sich verteidigen und auch nicht wie er sich
kontrollieren kann. Ich sollte ihn schnell töten und zwar bevor er
sich verwandelt. Denn dann wird er nur noch einen Gedanken kennen:
Töten.
Ich schaue zum Himmel, kann bereits den
Mond erkennen. Gleich wird es losgehen.
Direkt neben seinem Fenster verläuft
eine Regenrinne entlang, an dieser halte ich mich nun fest und
klettere hoch, ziehe mich dann auf sein Fensterbrett.
Zwei erschrockene Augen starren mich
an. Ich lege den Finger auf die Lippen und bedeute dem Jungen, das
Fenster zu öffnen. Er starrt mich einfach weiter an. Ich wiederhole
die Geste, diesmal energischer und er reagiert, schiebt es hoch.
„Wer bist du?“, fragt er.
Seine blonden Haare stehen ihm
zerstrubbelt und nass vom Kopf ab, er muss gerade duschen gewesen
sein.
„Die einzige, die dich davor bewahren
kann, heute Nacht Menschen zu töten“, sage ich.
Der Blick in seinen Augen wird noch
ängstlicher. „Was?“
„Du hast einige Veränderungen an dir
bemerkt, nicht wahr?“
Er nickt. Ich seufze. Es hätte ja noch
immer sein können, dass er nicht verwandelt wurde, dass es ein
falscher Alarm war.
„Schärfere Sinne?“, frage ich.
Erneutes Nicken. „Klauen und
Fangzähne, wenn du wütend wirst?“
Er wendet beschämt den Blick ab. „Was
geschieht mit mir?“
Seine Stimme ist leise und verängstigt.
Er tut mir leid. Aber ich kann es nicht ändern, das kann niemand. Es
gibt kein Gegenmittel, ansonsten hätten wir es schon längst
gefunden.
„Du wurdest vor etwa einem Monat von
einem wilden Tier angegriffen und gebissen, nicht wahr? Tja, das war
ein Werwolf.“
Er starrt mich an und schüttelt den
Kopf. „Bist du völlig durchgeknallt?“
„Leider nein. Aber du wirst es bald
sein. Sicher spürst du schon, wie du dich verwandelst, nicht wahr?“
Er antwortet nicht, starrt mich nur mit
seinen blauen Augen durchdringend an. Ich seufze erneut.
„Und wie willst du mir helfen?“
„Ich kann dir nicht helfen. Ich kann
dich nur töten. Und ich werde es müssen, denn sonst würden
Menschen sterben und zwar durch deine Hand. Oder eher Klaue.“
Er schüttelt den Kopf. „Ich würde
niemals jemandem weh tun.“
„Du wirst kein Mensch mehr sein,
sondern ein Monster, dessen einziger Gedanke es ist, alles Lebendige
zu zerreißen. Ich bin hier, um das zu verhindern. Ich wünschte, es
gäbe einen anderen Weg, Marc.“
Er starrt mich weiter an, die Angst
kehrt wieder in seine Augen zurück. „Bist du sicher?“
Ich nicke traurig. „Es tut mir leid.
Ich weiß, du bist ein guter Mensch.“
Ich blicke einen Moment zu Boden, als
ich wieder in sein Gesicht schaue, sind seine Augen nicht mehr blau,
sondern gelb.
Mein Atem beschleunigt sich und ich
greife nach meiner Waffe. Doch mit einer schnellen Bewegung stößt
Marc mich von seinem Fensterbrett und ich falle in den Garten
hinunter. Mir bleibt für einen Moment die Luft weg. Neben mir höre
ich wie etwas auf den Boden prallt, dann erklingt ein lautes Knurren.
Reflexartig rolle ich mich zur Seite weg und das keine Sekunde zu
früh. Dort, wo eben noch mein Hals war, kratzen nun Marks Klauen
über den Boden.
Ich reiße erschrocken die Augen auf
und er greift erneut an, bringt mir einige tiefe Kratzer über dem
Bauch bei. Ich schreie auf , krieche von der Bestie weg, die vor
einer Minute noch ein verängstigter Junge gewesen ist.
Meine Hände zittern, als ich meine
Waffe ziehe und auf ihn richte, doch ich kann nicht abdrücken, nicht
ehe ich weiß, dass es wirklich notwendig ist. Als ich den erneuten
Blick in seine Augen wage, kann ich darin nichts Menschliches mehr
erkennen. Er stößt ein lautes Brüllen raus und ich drücke ab.
Wie in Zeitlupe sehe ich die Kugel auf
seinen Kopf zufliegen und genau zwischen seinen Augen eindringen.
Blut spritzt heraus, als sein Kopf nach hinten gerissen wird und er
hintenüber kippt. Dann ist es vorbei.
Marc bewegt sich nicht mehr, seine
Augen starren blicklos ins Leere und sein eben noch animalisch
verzerrtes Gesicht wird wieder zu einem menschlichen, seine Augen
wieder blau.
Ich starre auf seine Leiche hinab und
Tränen laufen mir über die Wangen.
Aus dem Haus, in welchem bis vor einer
halben Minute noch eine intakte Familie gewohnt hat dringen
aufgeregte Stimmen und Schritte bewegen sich auf die Tür zum Garten
zu. Ich muss hier weg. Schnell drehe ich mich um und renne los,
während noch immer Tränen über meine Wangen laufen. „Es tut mir
so leid“, schluchze ich und erreiche endlich die Straße.
Aus dem Garten klingt ein
schmerzerfüllter Schrei und ich beschleunige meine Schritte noch.
Mit quietschenden Reifen hält ein
Wagen neben mir und ich höre eine Stimme. „Steig ein!“
Ohne lange darüber nachzudenken tue
ich es und wir fahren weg.
Ich schaue den Fahrer an, es ist mein
Bruder, Christian. „Wie schaffst du das?“, frage ich leise.
Er antwortet nicht, sondern fährt nach
einigen hundert Metern an den Rand und nimmt mich einfach in den Arm.
Und ich weine weiter, um den Jungen, der seine Freunde und seine
Familie geliebt hat, der Obdachlosen geholfen hat und einfach so in
ein Monster verwandelt wurde, ohne Grund, und der deswegen sterben
musste.
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