Mittwoch, 15. April 2015

Eichenrinde

Eichenrinde


Die Frau wanderte durch den Wald, jedoch nicht wie alle anderen Spaziergänger auf den Wegen, sondern direkt durch das Gestrüpp mitten hinein in das dichte Gewirr aus Bäumen.
Sie hatte ein Ziel vor Augen und wusste ganz genau wie sie es erreichen würde. Naja – so genau doch nicht, sie hatte die Koordinaten in ein GPS-Gerät eingegeben und richtete sich sicherheitshalber nach ihm. Es war viele Jahre her, seit sie das letzte Mal hier gewesen war und genau wie die Zeit, änderten sich auch die Wälder. Bevor sie sich noch verlief, nahm sie lieber eines dieser Geräte mit.
Sie suchte einen bestimmten Baum, der auf einer Lichtung gestanden hatte. Sie wollte ihn noch einmal sehen, um sich zu vergewissern, dass diese Erinnerungen real waren. Aber wie konnten sie nicht real sein, wenn sie sich so genau an die Koordinaten erinnerte?
Während sie durch den Wald lief und nach der Eiche suchte, träumte sie von den Tagen auf dieser Lichtung.
Sie und ihr damaliger Freund hatten sich dort im Sommer immer getroffen, gepicknickt und sich unterhalten. All dies im Schatten der Eiche oder in der Sonne auf der Wiese. Sie hatten sogar ein paar Mal dort übernachtet.
Endlich trat sie zwischen den letzten Bäumen hervor und auf die Lichtung, sie hatte sich tatsächlich ein wenig verändert, aber die Frau war sich völlig sicher am richtigen Ort zu sein. Dort waren die Sträucher, obwohl sie viel größer geworden waren, hinter denen sie sich einmal versteckt hatte, um ihn zu ärgern und überall auf der Wiese blühten dieselben Blumen wie damals schon. Unwillkürlich musste sie lächeln und es wurde ihr leichter ums Herz.
Doch noch war sie nicht genau an dem Ort, zu dem sie wollte.
Rechts von ihr, am anderen Ende der Lichtung stand eine riesige Eiche, sie bildete einen starken Kontrast zu den übrigen Bäumen, die nun eher klein und schmal wirkten. Auch stand sie deutlich weiter in die Lichtung hinein.
Manchmal hatte sie zum Spaß gesagt, dass diese die Königin des Waldes wäre und das sagen hätte, deswegen sei sie so groß und stark und weiter nach vorne gerückt. Er hatte gelacht und ihr gesagt, dass sie zu viel Fantasie hätte, aber dabei hatte er sie so verliebt angesehen, dass sie wusste, er meinte es nicht ernst und fand es eigentlich toll, dass sie solche Dinge dachte.
Sie setzte sich in Bewegung und ging auf den mächtigen Baum zu, die Blätter waren von einem satten grün, doch in ihrer Erinnerung waren sie noch grüner gewesen.
Der Weg erschien ihr furchtbar lang und immer wieder blitzten Bilder aus der Vergangenheit vor ihrem inneren Auge auf. Doch als sie endlich ankam und die Hand ausstrecke, richtete ihre volle Aufmerksamkeit sich auf die zwei Namen, die in die Rinde der Eiche eingeritzt und von einem Herz umrahmt waren. Darunter stand „für immer“.
Erleichtert seufzte die Frau. Es war alles real gewesen, nicht nur eines der Trugbilder, an die sie sich immer häufiger zu erinnern schien, keine dieser von ihrem eigenen Verstand manipulierten, falschen Erinnerungen. Es war real. Die Namen in der Rinde bewiesen es.
Sie dachte an den Tag zurück, als er sein Taschenmesser herausgeholt und diese in mühevoller Arbeit dort hinein geritzt hatte. Es war warm gewesen, beinahe konnte sie die Sonnenstrahlen jetzt noch auf ihrer Haut fühlen, die Vögel singen und die Bienen summen hören. Doch vielleicht waren das auch nur die Geräusche und die Sonne, die sie momentan wahrnahm. Aber dennoch – die Erinnerung war lebendig und es schien ihr, als wäre es erst gestern gewesen.

Sie lächelte und löste sich vom Anblick des Baumes, sah sich noch einmal auf der Lichtung um und machte sich auf den Rückweg. Jetzt, wo sie sicher war, dass all dies wirklich passiert war, konnte sie auch den Jungen suchen, mit dem sie das alles erlebt hatte und vielleicht konnten sie dann gemeinsam an diesen magischen Ort zurückkehren.

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