Draußen regnete es in Strömen, der
Regen prasselte auf das Dach und an die Fensterscheiben des Hauses,
in dem ein junges Mädchen auf der Fensterbank saß und nach draußen
starrte. Draußen war es dunkel und zugleich durch die vielen Lichter
der Stadt hell. So viele Menschen waren unterwegs.
Sie alle lebten und erfreuten sich
daran, sorgten sich um unwichtige Dinge wie Abendessen oder ob ihnen
das Oberteil auch wirklich gut stand. Ob sie eine Ahnung hatten wie
es den Menschen um sie herum ging? Denen, mit denen sie täglich
sprachen, ihrer Familie und ihren Freunden oder auch den Menschen, an
denen sie gerade zufällig vorbei liefen?
Das Mädchen war sich sicher, dass
niemand wusste wie sie sich gerade fühlte, dass niemand es verstand.
Da war eine große Leere, als wäre sie nicht mehr in ihrem Körper
drin oder als wäre der Teil von ihr, der für Gefühle zuständig
war, einfach abgekapselt worden. Aber zugleich fühlte sie einen
tiefen Schmerz wie er sich nicht mit Worten beschreiben lässt, man
kann ihn nur fühlen. Es war, als würde ihr das Herz aus der Brust
gerissen werden und zugleich spürte sie es noch schlagen, obwohl sie
nicht verstand, wieso es das tat, wo sie sich doch innerlich so tot
fühlte.
Dieser Schmerz war all die
aufgeschlagenen Knie und Schürfwunden, die sie als Kind erlitten
hatte. Er war der gebrochene Arm in der dritten Klasse, der erste
Liebeskummer, die unzähligen Prellungen vom Judo und Turnen, das
Haareziehen der Jungen in der Grundschule, die Gehirnerschütterung
als sie die Treppe heruntergefallen war, die Bienenstiche, die sie
sich bei der Gartenarbeit manchmal zuzog. Er war der gezogene letzte
Milchzahn und der Stromschlag von dem Zaun der Kuhweide, der Streit
mit ihrer besten Freundin und die erste fünf in der Schule, der Tod
ihres Goldfisches und die verbrühte Hand, als das Nudelwasser
übergekocht war. Dieser Schmerz war alles und nichts, er war viel
mehr als die Summe aller Leiden, die sie je erlebt hatte und doch mit
keinem zu vergleichen.
Fühlte es sich für jeden so an, wenn
ein Elternteil starb? Musste jeder diese Gefühle durchleben? Und
würden sie je wieder aufhören?
Das Mädchen wusste es nicht. Ihre
einst glänzenden braunen Haare fielen ihr matt über die Schultern,
das Strahlen war aus ihren Augen verschwunden.
Es hatte lange gedauert, bis ihr Vater
aufgegeben hatte, gegen den Krebs anzukämpfen, sie und ihre Mutter
hatten zusehen müssen wie er jeden Tag schwächer wurde und
schließlich den Willen zu Leben verlor. Das war beinahe das
Schlimmste: als er die Chemo abbrach und ihnen sagte, dass er lieber
sterben wolle als weiter so zu leben.
Sie hatte keine Tränen mehr übrig, in
all den Monaten hatte sie sich jede Nacht in den Schlaf geweint und
tagsüber ein Lächeln aufgesetzt, um ihren Vater zu ermutigen und
ihrer Mutter Trost zu spenden. Doch jetzt, wo es endlich vorbei war,
wenn auch nicht mit dem Ende, das sie sich erhofft und mehr als alles
andere gewünscht hatte, waren keine Tränen mehr übrig, sie waren
alle aufgebraucht. Das Mädchen war leer.
Sie lauschte auf den Regen, der an die
Scheibe und auf das Hausdach prasselte und beobachtete die Lichter
der Stadt und fragte sich, was die Menschen dort dachten, wie sie
lebten und was sie alles durchgestanden hatten. Vielleicht focht
gerade eine Familie denselben Kampf aus wie die ihre es getan hatte,
vielleicht verlor sie ihn. Aber vielleicht gewann sie ihn auch und
die Freude kehrte in ihr Leben zurück. Das Mädchen wusste es nicht
und würde es vermutlich auch nie erfahren. Aber das war ihr auch
egal, denn im Moment fühlte sie gar nichts.
Die Menschen sagten immer, wenn jemand
starb, hätte man noch das Gefühl, dass diese Person da war, über
einen wachte und neben einem saß und ihn tröstete. Doch seit seinem
Tod hatte sie von ihrem Vater nichts mehr gespürt. Er war einfach
weg und sie war allein.
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