Samstag, 18. April 2015

Was bleibt

Draußen regnete es in Strömen, der Regen prasselte auf das Dach und an die Fensterscheiben des Hauses, in dem ein junges Mädchen auf der Fensterbank saß und nach draußen starrte. Draußen war es dunkel und zugleich durch die vielen Lichter der Stadt hell. So viele Menschen waren unterwegs.
Sie alle lebten und erfreuten sich daran, sorgten sich um unwichtige Dinge wie Abendessen oder ob ihnen das Oberteil auch wirklich gut stand. Ob sie eine Ahnung hatten wie es den Menschen um sie herum ging? Denen, mit denen sie täglich sprachen, ihrer Familie und ihren Freunden oder auch den Menschen, an denen sie gerade zufällig vorbei liefen?
Das Mädchen war sich sicher, dass niemand wusste wie sie sich gerade fühlte, dass niemand es verstand. Da war eine große Leere, als wäre sie nicht mehr in ihrem Körper drin oder als wäre der Teil von ihr, der für Gefühle zuständig war, einfach abgekapselt worden. Aber zugleich fühlte sie einen tiefen Schmerz wie er sich nicht mit Worten beschreiben lässt, man kann ihn nur fühlen. Es war, als würde ihr das Herz aus der Brust gerissen werden und zugleich spürte sie es noch schlagen, obwohl sie nicht verstand, wieso es das tat, wo sie sich doch innerlich so tot fühlte.

Dieser Schmerz war all die aufgeschlagenen Knie und Schürfwunden, die sie als Kind erlitten hatte. Er war der gebrochene Arm in der dritten Klasse, der erste Liebeskummer, die unzähligen Prellungen vom Judo und Turnen, das Haareziehen der Jungen in der Grundschule, die Gehirnerschütterung als sie die Treppe heruntergefallen war, die Bienenstiche, die sie sich bei der Gartenarbeit manchmal zuzog. Er war der gezogene letzte Milchzahn und der Stromschlag von dem Zaun der Kuhweide, der Streit mit ihrer besten Freundin und die erste fünf in der Schule, der Tod ihres Goldfisches und die verbrühte Hand, als das Nudelwasser übergekocht war. Dieser Schmerz war alles und nichts, er war viel mehr als die Summe aller Leiden, die sie je erlebt hatte und doch mit keinem zu vergleichen.
Fühlte es sich für jeden so an, wenn ein Elternteil starb? Musste jeder diese Gefühle durchleben? Und würden sie je wieder aufhören?
Das Mädchen wusste es nicht. Ihre einst glänzenden braunen Haare fielen ihr matt über die Schultern, das Strahlen war aus ihren Augen verschwunden.
Es hatte lange gedauert, bis ihr Vater aufgegeben hatte, gegen den Krebs anzukämpfen, sie und ihre Mutter hatten zusehen müssen wie er jeden Tag schwächer wurde und schließlich den Willen zu Leben verlor. Das war beinahe das Schlimmste: als er die Chemo abbrach und ihnen sagte, dass er lieber sterben wolle als weiter so zu leben.
Sie hatte keine Tränen mehr übrig, in all den Monaten hatte sie sich jede Nacht in den Schlaf geweint und tagsüber ein Lächeln aufgesetzt, um ihren Vater zu ermutigen und ihrer Mutter Trost zu spenden. Doch jetzt, wo es endlich vorbei war, wenn auch nicht mit dem Ende, das sie sich erhofft und mehr als alles andere gewünscht hatte, waren keine Tränen mehr übrig, sie waren alle aufgebraucht. Das Mädchen war leer.
Sie lauschte auf den Regen, der an die Scheibe und auf das Hausdach prasselte und beobachtete die Lichter der Stadt und fragte sich, was die Menschen dort dachten, wie sie lebten und was sie alles durchgestanden hatten. Vielleicht focht gerade eine Familie denselben Kampf aus wie die ihre es getan hatte, vielleicht verlor sie ihn. Aber vielleicht gewann sie ihn auch und die Freude kehrte in ihr Leben zurück. Das Mädchen wusste es nicht und würde es vermutlich auch nie erfahren. Aber das war ihr auch egal, denn im Moment fühlte sie gar nichts.
Die Menschen sagten immer, wenn jemand starb, hätte man noch das Gefühl, dass diese Person da war, über einen wachte und neben einem saß und ihn tröstete. Doch seit seinem Tod hatte sie von ihrem Vater nichts mehr gespürt. Er war einfach weg und sie war allein.


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